Montag, 13. Juni 2011

CUT HANDS - AFRO NOISE I

Afrika muss das erste Wort lauten. Afrika ist hier in jedem Zusammenhang das Schlüsselwort. Rein faktisch: Dieses vorwiegend sehr perkussiv orientierte Album wurde (u.a.) mit einer Vielzahl von afrikanischen Instrumenten eingespielt; der Macher William Bennett verbindet konkrete, afrikanische Bilder und Ereignisse mit der Musik; die Song-Titel sind voll der Namen und Referenzen; und überhaupt, was wollen wir lange drum herum reden: kann es noch eindeutiger werden als "Afro-Noise"?

In dem Projekt CUT HANDS kulminiert also das nahezu obsessive Interesse für Afrika, mit dem Bennett seit über einem Jahrzehnt seine Vita schmückt wie andere den heimischen Eingangsbereich mit einem zum Schirmständer umfunktionierten Elefantenfuss. Hartnäckig hält sich das Gerücht, er hätte die mutmaßliche Kompilation “Extreme Music From Africa” 1997 nicht nur zusammengestellt und auf seinem Label, Susan Lawly, herausgebracht.
Compilation oder Hoax?
Vielmehr soll er das Album auch selbst eingespielt haben, zumindest teilweise. Natürlich kann hier auch die weltgrösste Datenbank discogs.com nicht wirklich weiterhelfen (Stichwort: Awesome Tapes from Africa). Unter den Millionen von Discogs-Einträgen finden sich für jeden EMFA-Interpreten bis auf einen keine andere Veröffentlichungen, nur die besagte Compilation. Nun soll es angeblich Menschen geben, die Menschen kennen, ... Wer will’s wissen? Dennoch ist festzuhalten, dass “Extreme Music from Africa” etwas anderes ist als Afro-Noise, und umgekehrt; Bennett besteht darauf, dass er mit CUT HANDS keine afrikanische Musik macht - vielmehr handelt es sich eben um Afro-Noise, und der besteht nach seiner Definition aus “obscure African percussion elements in free-form work-outs with almost any other type of (genuine) sound experimenting.”

Zur Jahrtausendwende folgten bereits erste Aktivitäten unter dem Namen CUT HANDS - hier mal ein DJ-Auftritt, dort mal ein Track oder ein fulminater Mix. Bevor Bennett jedoch nach achtjahrelanger Arbeit und diversen Drum-Workshops Ende Mai 2011 endlich ein Album unter dem Namen veröffentlichen sollte, schüttete er als Chef der englischen Power Electronics-Pioniere WHITEHOUSE mit den CUT HANDS-Tracks “Munkisi Munkondi” und “Bia Mintatu” auf den letzten Whitehouse-Alben “Bird Seed”(2003) und “Racket”(2007) noch mal ein paar Gallonen Öl ins Feuer. Giftig verrauchte Appetithäppchen, die Lust auf mehr machten. Auf “Bird Seed” warnt zusätzlich ein Songtitel: “Cut Hands Has the Solution”. Mehr geht nicht. Lösungen wollen wir alle. Es müssen ja nicht immer finale sein ...

Auch ohne das alles verfolgt zu haben, erschließt sich das schreckliche Faszinosum dieses Projekts ziemlich schnell. Ein Bandname wie CUT HANDS gibt im Beiklang konkretere Bilder vor. Es sind nicht die Afrikabilder mit den lustigen Farben und den lachenden Negern. Auch nicht die hungernden Babies. Und natürlich auch nicht der “Edle Wilde” wie ihn die Riefenstahl fotografiert hat, wo kämen wir denn auch dahin. Wenn das Afrika von CUT HANDS die Wiege der Menschheit ist, tobt gerade ein besonders fieser, fleischfressender Virus über die Wöchnerinnenstationen. Kein schöner Anblick.

The Lords resistance Audio
Während Stefan Danielsson in seinen kunstvollen Collagen für WHITEHOUSE den afrikanischen Horror mit einem nostalgischen Voodoo-Sepiaschleier abtönt und schon qua Technik Post-Kolonialismus mit den Dämpfen aus der Uhu-Tube eingesogen hat, erweckt der “Vice-Guide to Liberia” mit einigen CUT HANDS-Tracks im Soundtrack erschreckend aktuelle Bilder von Ungeheuerlichkeiten zwischen Kannibalismus und Genozid. Dieser vorbehaltlos sehenswerte, knapp einstündige Doku-Thriller ist eine Mischung aus Heart of Darkness/Hearts Of Darkness (dem Roman und der Doku ), "Cannibal Holocaust" und "Africa Addio" ohne den Trash-Faktor. Initialzündung war ein Text über Sierra Leone, den Bennett für das englische BIZZARE-Magazin geschrieben hatte als dort der jetzige Vice-Mitarbeiter und Filmemacher Andy Capper noch als Redakteur tätig war.

Kiss of the butterfly, Liberian-Style
Die Bilder aus Liberia, die uns der Film wie Narben in die Erinnerung treibt, verraten mehr über die Musik als jedes Wort. Das ist auch mehr als Exploitation, Splatter-Exotismus oder Mondo in einer Pervertierung des Camp-Gedankens. Wie antwortet der Sohn so schön in Robert Longos Video für “Peace Sells But Who’s Buying” auf die Aufforderung seines Vaters, den Scheiss aus- und die Nachrichten einzuschalten: "This IS the news!" Fairerweise sei hinzugefügt, dass man das mit demselben Recht und einer unterschiedlichen Perspektive auch anders sehen und verstehen kann.

Wie Power Electronics muss Afro-Noise vorzugsweise in ohrenschädigender Lautstärke gehört werden. Das ist ein Klischee, es zu betonen ist ein Klischee aber während es unter Umständen noch möglich wäre, über die Qualitäten von ambientös leisen Power Electronics zu diskutieren, erübrigt sich das zumindest für den Afro-Noise auf CUT HANDS. In einem Interview, das Bennett für die, Überraschung!, Vice gegeben hat, versucht er seinem Gegenüber, Überraschung!, Andy Capper die Wirkung der Musik zu vermitteln: “First you feel a tingling sensation, followed by palpitations, and finally, frothing at the mouth. Actually, I’m not making that up. At industrial-strength volumes this stuff will take you over. My own unproven theory is that the brain, usually so adept at recognising musical patterns, can’t keep up with the increasingly complex polyrhythms. You run out of body parts to move and then it invades your mind and creates an altered state.”

Ja-nö, jetzt nicht gerade exakt “altered states”, kann man nicht behaupten. Oder doch. Wir probieren es noch mal:

1. Welcome To The Feast Of Trumpets
Etwas handlahmes Geklopfe, dazu eine Art entschärftes Kreissägen-Inferno und ein paar moody Flächen. Mit gut 2 Minuten eher eine Intro - wie der Rest des Albums “handgespielt” - no loops, no sequencer, no samples ...

2. Stabbers Conspiracy
Das Dingeln setzt ein und nimmt zusammen mit dem Geklopfe Fahrt auf - erinnert stellenweise an den etwas aggressiveren Gamelan wie man ihn aus Bali kennt - so hätte der von Eckart Rahn 98er im Aladdin Pachinko Parlour, Shinjuku, Tokyo, aufgenommenen Field Recording/Noise-Klassiker “Pachinko In Your Head” gern klingen dürfen ...

3. Rain Washes Over Chaff
Regen auf dem Blechdach. Dunkel dräuende Akzente, die aus unerklärlichen Gründen manchmal, das wird dem William bestimmt nicht recht sein, an RAMLEH erinnern, die Stimmung legt mit THROBBING GRISTLE sicherlich ähnlich ungewollte Referenzen nahe ... Erstaunlich zahm, ein geheimer Hit ...

4. Nzambi Ia Lufua
Bei Zimmerlautsärke: Müdes Gefiepe und Gedöhns. Bei Flugzeughanger-Lautstärke: Intensiver, stechend nervender als 90% der VÖs von Merzbow - wie hiessen noch mal die (Post)Industrial-Quälgeister mit diesen schrillen Frequenzen, DOMINATOR? Egal, so ähnlich nur noch nerviger ...

5. Who No Know Go Knows
Beginnt verstolpert, entwickelt sich aber rhythmisch zum Ohrwurm - wenn man William weiter nerven will, kann man jetzt getrost damit anfangen, die frühen 23 SKIDOO herbeizuschreiben ...

6. ++++ (Four Crosses)
Kosmisches Synthie-Genudel. Das Weltall als Diaspora. Space is the place.

7. Backlash
Leider mit 1.54 min viel zu kurzes, klöppelndes Delay-Drama mit silbrig schimmernden Texturen. Kann man auf Repeat insbesondere mit der Funktion “Titel überblenden” (Indealwert: 6 Sekunden) fantastisch den ganzen Tag als Dauerloop hören. No Loops? Eat dis, William!

8. Shut Up And Bleed
Schrillofant! Von Altered States immer noch keine Spur, dafür klingeln die Ohren (mit). Im Hintergrund versucht Bryn noch mal die Poly-Rhythmik à la MUSLIMGAUZE zu veranschaulichen, aber Bennett hört ja wieder nicht ...

9. Munkisi Munkondi
Der Unterschied zur WHITEHOUSE-Version ist etwas für echte “Expert Knob Twiddler”- als neue Version eher unnötig, die Vocal-Spur bleibt dennoch die Macht!

10. Impassion
When The Gospel Comes To ... Liberia? Sehr schön und irgendwie, nahezu *hüstel* virtuos? Könnte als RMX in den Händen von tollkühnen DJs gleichzeitig aufrütteln und sedieren, das wäre doch auch mal eine interessante Droge, der Speedball für die Ketamin-Massive ...

11. Ezili Freda
Mambo Ezili Freda Daome aka Maîtresse Mambo Erzulie Fréda Dahomey ist den Anhängern des haitianischen Vodou, was die Geheiligte Jungfrau Maria als Schmerzensmutter (Mater Dolorosa) den Katholen ist. Dafür klingt der Track relativ amorph, man könnte schwören, eine Drumbox zu hören und zum Schluß gibt es noch ein paar käsige Preset-Geräusche wie aus der Laserkanone - seltsam.

12. Bia Mintatu
Durchdachter, dynamischer Track mit interessanten Steigerungen, gerade in der Mitte, wenn es voller wird - aber die minimal brutalere WHITEHOUSE-Version hätte auch gereicht.

13. Rain Washes Over Every Thing
Kleine Endmeditation ohne Percussion - verbreitet noch etwas dystopische, vage ungemütliche Stimmung zum schnellen Abschied.

Fazit
Mit insgesamt 50 Minuten Spielzeit und angesichts der beiden bereits veröffentlichten Songs ist das Album etwas kurz und im Vergleich mit dem o.g. Mix etwas harmlos - umso gespannter darf man auf das folgende Material sein, vorausgesetzt Bennett lässt uns nicht wieder so lange warten.

Die CD "Afro Noise I" von CUT HANDS ist am 23.Mai 2011 auf Susan Lawly erschienen, eine Vinyl-Version soll in Kürze folgen.

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